This site will look much better in a browser that supports web standards, but it is accessible to any browser or Internet device.



AUTOR VON "HAHNENSCHREIE", "LIEBESBRIEF AN FREMDEN KÖNIG" UND SCHILLER-TRILOGIE ("STERNGUCKER ODER ...")



Aus "Hahnenschreie Band 1"

Tom

Nachts gegen zwei ist der Lederkeller immer am vollsten.

Schon im Tresenraum staut sich die geballte Virilität in Leder-, Jeans- und Gummi-Kluft, die gleichwohl nackte Arme und fastnackte Oberkörper sehen, Ärsche und Schwänze mehr als ahnen läßt. Natürlich Gürtel und Ketten. Natürlich Boots und Eisenbeschläge. Nieten, Schnallen und Reißverschlüsse. Schlaufen und Schulterstücke. Leidenschaftlich zerfetzte T-shirts. Ein Piratenkopftuch. Keine Farben. Nichts Helles. Na­türlich Schnäuzer, Behaarung, Tattoo. Natürlich Zigaretten und Bier. Fantasieuniformen.

Der Lederkeller ist eine letzte Männerbastion. Schon modisch gekleidete Epheben werden hier lieber hinauskomplimentiert. Hier sucht das Maskuline keinen Kontrapunkt, es will sich un­gebrochen selbst. Tagsüber Buchhalter oder Versicherungsver­treter in gesprenkelter Gesellschaft, nachts Operetten-SS unter sich, huis clos und eindeutig.

Vorn im Tresenraum wird noch gesprochen und getratscht. Mit mühsam erworbenem Getränk drängelt Yan sich durch glei­tende Lederschenkel und ausweichenden Lederbizeps, der die Berührung fast virtuos vermeidet, in den nächsten Raum durch. Der schwarze Lack blättert hier schon von den Wänden. Die Chromblenden reflektieren im indirekten Dämmerlicht das schwarze Leder der Kerle, die sich hier gnadenlos fixieren. Hier ist Muste­rung, hier ist Fleischbeschau, hier ist Vorauswahl. Hier wird nun nicht mehr gesprochen. Hier gibt es nur noch zwei Verhal­tensweisen.

Die einen stehen. Sie stehen in mehreren Reihen rings um den riesigen runden Spulentisch, im halben Dämmerlicht. Sie ste­hen und warten. Sie stehen und halten Ausschau. Sie stehen und rauchen. Sie stehen und gucken. Sie stehen und gucken weg. Sie stehen und trinken. Sie stehen und halten sich an ihrer Bierflasche fest. Sie stehen und knabbern Erdnüsse. Sie stehen und schweigen. Sie stehen und stehen. Sie stehen sich die Beine in den Leib. Stundenlang.TOP

Die andern rennen. Sie rennen hin und her. Sie rennen ins Klo. Sie rennen in den Nebenraum mit dem Labyrinth von Stellwän­den, an denen sich die geilen Supermänner des Tom of Finland schamlos exponieren. Sie rennen in den Video-Raum. Sie ren­nen zu den Spielautomaten. Sie rennen in den dark room. Sie rennen ins Klo. Sie rennen zum Tresen. Sie rennen in den dark room. Sie rennen in den Porno-Raum. Sie rennen ins Finland-Labyrinth. Sie rennen zum Tresen. Sie rennen ins Klo. Sie ren­nen in den dark room. Sie rennen und rennen. Sie rennen sich die Beine aus dem Leib. Stundenlang.

Die Stehenden beobachten heimlich die Rennenden. Die Ren­nenden übersehen demonstrativ die Stehenden.

Die Rennenden schweigen. Die Stehenden schweigen.

Jeder tut so, als sei er hier allein. Jeder ist hier wohl auch al­lein. Dabei wird es immer voller. Es ist halb drei.

Yan verläßt seinen Stehplatz am runden Tisch und rennt ins Finland-Labyrinth. Hier ist es fast dunkel. Hinter den Stellwän­den, zwischen Toms Supermännern, stehen Stehende und war­ten. Yan rennt an ihnen vorbei und übersieht sie. Sie sehen ihn und sehen weg.

Yan rennt in den Video-Raum. Zwei Monitore stehen überein­ander. Im oberen läuft ein Männer-Porno, im unteren singt ein ahnungsloser Pop-Star. Davor circa zehn Reihen zu je zwei Ki­no-Klappsitzen, auf denen sich die Steher vom Stehen und die Renner vom Rennen erholen. Hier stimulieren sich außerdem die Steher zum Rennen, die Renner zum Gucken. Alle gucken sie, wer hier an ihnen vorbei und in den dark room rennt.

Yan steht und guckt, stimuliert sich und rennt dann in den dark room. Der dark room ist voll von Stehenden. Sie stehen und warten. Sie stehen und drängeln. Sie stehen und schweigen. Sie stehen und schieben. Sie schieben sich weiter in den Raum. Sie schieben sich weiter hinein. Sie schieben sich hin und her. Sie wogen hin und her. Sie reiben sich aneinander. Sie reiben hin und her. Sie reiben. Sie wogen. Sie schweigen. Sie atmen. Sie keuchen. Es ist dark. Manche ziehen an ihrer Zigarette, um im aufglimmenden Lichtschimmer zu erkennen, an wem sie sich reiben. Manche machen auch ihr maskulines Feuerzeug an und leuchten brutal in die Gesichter hinein. Aber manche fassen einfach mit der Hand in die Gesichter hinein und prüfen Bartwuchs, Falten, Fett oder Haare.

Es riecht gesprenkelt nach Poppers, nach Bier und Nikotin, nach Männerschweiß und Sperma. Yan schiebt sich in die bro­deln­den Lederwogen hinein, spürt Schenkel und Ärsche an Beinen und Händen und fragt sich, warum Sperma einen so starken Geruch hat, wenn es nur dafür gut sein soll, ungerochen in Frauenbäuchen zu verschwinden: dafür ist Mutter Natur norma­lerweise viel zu ökonomisch; riechen läßt sie nur, was anreizen, anlocken, was verführen soll. Für Frauennasen riecht Sperma weniger verführerisch als abstoßend. Hier im dark room bekommt der Geruch einen Sinn: er reizt, er verlockt, er verführt ...TOP

Yan hat sich bis nach hinten in eine Ecke durchgedrängelt. Der kleine Raum wird immer voller und immer enger. Schnelles Rausrennen ist nicht mehr möglich. Yan ist eingezwängt - ein­gesperrt zwischen unsichtbaren Männerleibern. Wenn jetzt was passiert. Eine Kolik. Eine Herzattacke. Ein Messerstich. Er will raus. Er kann nicht raus. Platzangst steigt in ihm hoch. Panik steigt in ihm hoch. Eine Hand steigt an ihm hoch - an seinem Bein, in seinen Schritt, an seinen Phallos. Eine andre Hand öff­net seinen Gürtel. Oder ist es dieselbe? Eine dritte Hand zieht seinen Reißverschluß runter. Oder ist es die zweite Hand? Oder die erste? Zwei Hände ziehen seine Hose runter. Sie kommen von unten. Sie gehören zu einem, der am Boden kauert, zwi­schen all den Stiefeln mit den Eisenbeschlägen. Eine Unterhose hat Yan sich gar nicht erst angezogen. Von hinten greift ihm eine Hand zwischen die Beine, packt seine Hoden im Schraub­griff und dreht sie, langsam, immer weiter und weiter. Ein Mund schnappt sich seinen Phallos, leckt und saugt ihn, saugt und verschlingt ihn, saugt und verschlingt ihn, saugt und ver­schlingt ihn. Hände streichen an ihm auf und ab, rauf und run­ter, von vorne und von hinten. Hände kneten seine Arsch­backen. Ein Finger bohrt sich in sein Arschloch. In seiner rechten Hand hält Yan jetzt einen riesigen Phallos mit Eisen­ring, seine Linke kratzt durch ein Brustfell, verkrallt sich in ei­ner erigierten Brustwarze mit Eisenring. Sein Schwanz wird gesaugt und verschlungen, verschlungen und gesaugt. Jemand stöhnt. Wer stöhnt? Stöhnt Yan? Es wird gefährlich.

Yan zieht seinen Phallos aus dem saugenden Mund, läßt die Linke von der Brustwarze, die Rechte vom Riesenschwanz, zieht seine Hose hoch und drängelt sich mit sanfter Gewalt zum Ausgang durch.

Er betritt den Video-Raum. Die Operetten-SS lümmelt sich auf den Klappsitzen und knabbert Erdnüsse. Ein Obergruppenfüh­rer masturbiert vor dem Monitor.

An der Rückwand des schlauchförmigen Kinoraums klettern amphitheatralische Bänke hoch und erinnern Yan an Ephesos. Ein dicker alter Mann läßt sich hier grade wie ein Buddha nie­der. Ein junger Mann zieht sich nackt vor ihm aus, kniet vor dem Buddha nieder und vergräbt seinen Kopf in dessen Schoß. Ein zweiter junger Mann mit nacktem Oberkörper steht dane­ben und packt behäbig eine Lederpeitsche aus, mit der er den Arsch des Knienden zu bearbeiten beginnt. Der Buddha feuert den Schlagenden an und tröstet zwischendurch den Knienden in seinem Schoß.TOP

Die Szene wird scheinbar kaum beachtet. Die Rennenden ren­nen vorüber und tun so, als schauten sie nicht hin. Die Sitzen­den starren auf eine sado-masochistische Szene auf dem Bild­schirm vor sich und drehen der leibhaftigen den Rücken zu.

Auch Yan rennt an dieser ménage à trois vorbei und kommt in den Mittelraum mit der zentralen Erdnuß-Spule. Hier herrscht inzwischen kein Schweigen mehr, hier dröhnt ein selbstgenüß­licher Bariton, der über "Emilia Galotti" predigt. Es ist Igor Dübel, Theaterkritiker und Theaterdirektor in einem. Er präsi­diert im Stehen, inmitten eines Hofstaats aufmerksamer junger Aspiranten, denen er huldvoll seine Theorien und Bewertungen zeitgenössischen Theaters verkündigt. Die Aspiranten lauschen unterwürfig seinen Weisheiten. Niemand im Raum kann sie überhören, trotz der Rock-Berieselung aus dem unteren Video-Gerät: so laut dröhnt Igor Dübels lyrischer Bariton.

Yan rennt ins Klo. An der Klotür steht "Für Herren". Eine ent­sprechende Tür "Für Damen" gibt es hier nicht. Die Klotür für Herren steht immer offen. Im Klo ist Igor Dübels Gedröhne nur noch gedämpft zu hören. Sonst herrscht hier, im Dämmerlicht, das totale Schweigen. Das Klo ist voll von Stehenden. Sie ste­hen und warten. Manche stehen und pissen. Andere stehen und onanieren. Die meisten stehen und schauen den Pissenden und Onanierenden zu. Das Pissoir ist entsprechend konstruiert. Sechs Pißbecken sind im Kreis an einer Mittelsäule befestigt, die frei im Raum steht. So haben die Zuschauenden eine gute Einsicht in Pißbecken und Hosenställe. Manche der Pissenden stört das, manche genießen es, manchen ist es egal. Die Scheißkabinen werden zum Ficken benutzt.

In einer Ecke des Raumes, hinter der Pinkelsäule, hat sich ein weißhaariger und sehr dicker alter Mann auf den Fußboden gelegt. Die andern kennen ihn und seine Gelüste und pissen auf ihn drauf: auf seine Kleidung, in sein Gesicht, wie der spren­kelnde Strahl es grade trifft. Wieder andere stehen nur daneben und schauen sich das an. Niemand außer Igor Dübel spricht ein Wort.

Yan rennt ins Finland-Labyrinth mit den schamlosen Super­männern jenes Tom. Dort tut sich gar nichts. Aber Igor Dübel ist hier Wort für Wort zu verstehen. Er scheint die Mannheimer "Emilia Galotti" besser zu finden als die Münchner.TOP

Yan rennt in den Video-Raum und schaut einem französischen Knaben-Porno zu. Plötzlich zuckt er unter einem kräftigen Schlag zusammen, der seinen Arsch trifft. Der Schlagende ist ein ihm unbekannter Ledermann, aber besonders viril und geht wortlos weiter, als sei nichts geschehen.

Yan rennt in den Tresenraum. Yan passiert den Mittelraum, wo Igor Dübels theaterwissenschaftliches Kolleg noch andauert, und rennt ins Pissoir. Dort entdeckt er jetzt den Counter-Tenor. Der Counter-Tenor lebt mit Yans früherem Masseur zusammen, der Yan im Verlaufe einer Massage zu verführen ver­sucht, als Yan gerade gar nichts damit im Sinne hat. Als Yan später sehr viel damit im Sinne hat, zeigt der Masseur ihm die kalte Schulter und versteckt sich hinter seiner Freundschaft mit dem Counter-Tenor, den Yan in einem Jessye-Norman-Konzert schließlich kennenlernt.

Nun steht er plötzlich im Lederpissoir vor Yan. Jeder sieht den andern und übersieht ihn zugleich, nach Art des Hauses. Trotz­dem beobachtet Yan den Counter-Tenor hinter der Pißsäule. Da schiebt sich von hinten ein Arm zwischen Yans Beine und hebt ihn einfach hoch. Der durchgestreckte Kraftarm hält Yan wie ein Hebel einige Sekunden in der Luft und setzt ihn dann wie­der ab. Yan dreht sich um. Vor ihm steht der virile Ledermann, der ihm vorhin eins über den Arsch gebrannt hat. Sie schauen sich ernst, humorlos und mit fremder Kälte in die Augen, dann greift ihm der Ledermann an den Schwanz, testet dessen Größe, dreht ab und verläßt das Pissoir.

Yan schaut beiläufig zum Counter-Tenor, der noch immer da­steht und hinschaut, als ob er wegschaut. Dann rennt Yan zum Klo hinaus.

Yan rennt ins Finland-Labyrinth, in den Tresenraum, am dozie­renden Igor Dübel vorbei, an der flagellanten Pietà selbdritt vorbei, durch den Kinoschlauch und in den dark room.

Dort herrscht gerade die atemlose Stille einer weltabgeschiede­nen Enklave. Keiner schiebt, keiner wogt, keiner keucht. Alle halten den Atem an. Alle warten. Ihre gespannte Erwartung steht im Raum wie ein unsichtbarer Erzengel. Hochspannung steht in der Finsternis. Aber gegen die Helligkeit der Eingangsöffnung sieht Yan die Silhouette seines virilen Kraftmannes mit den Hebel­armen direkt vor sich. Er fühlt dessen Griff an seinem Gürtel. Mit einem einzigen Hebelruck reißt ihm der Kraftmann die Jeans auf die Fußknöchel runter. Der Kraftmann masturbiert ihn kurz, dann greift er ihm zwischen die Arschbacken, reißt sie ausein­ander.

Yan weiß, was jetzt kommen soll. Ihm steht der Sinn aber kei­neswegs nach Blutopfer und Schlachtfest. Er entzieht sich. Er zieht die Hose hoch, zieht sich zurück, rennt durch den Kino­schlauch, an der Pietà und an Igor Dübel vorbei und ins Klo. Dort erwartet ihn der siegessichere Counter-Tenor schon mit offenem Phallos. Wortlos und ohne Erkennungssignale, wie Fremde, fangen sie an zu knutschen und sich gegenseitig zu masturbieren. Sie haben gleich Zuschauer, dann auch Mitwir­kende. Es riecht nach Poppers, Sperma, Nikotin und Pisse. Sehr fern ist Igor Dübel zu hören. Er spricht jetzt über Thomas Bernhard und Claus Peymann.

Volltext im Internet über www.buchhandel.de

Der Hahn schreit Der Hahn antwortet

Copyright-Hinweis: Die Inhalte dieser Seite sind urheberrechtlich geschützt. Eine private oder kommerzielle Verwendung dieser Inhalte (Bilder, Texte) erfordert eine ausdrückliche Genehmigung durch Moritz Pirol.