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AUTOR VON "HAHNENSCHREIE", "LIEBESBRIEF AN FREMDEN KÖNIG" UND SCHILLER-TRILOGIE ("STERNGUCKER ODER ...")



Aus

STERNGUCKER ODER DAS IDYLL EINES OBDACHLOSEN
Band 2: Doppelsonnen

Julius & Raphaël

Vertraulicher Privatbrief an Abraham Blaugold

Lieber Herr Professor,
dies ist der Brief eines schwulen Israeli in Jerusalem. Bitte erlauben Sie, daß ich Sie nachstehend duze. Es soll als Zeichen einer Solidarität dienen, wie ich sie mit allen Schwulen und allen Juden dieser Welt, in Deinem Falle aber auch noch als einer empfinde, der sich bemüht, Dein Geistesbruder zu sein. Sagt man im Deutschen so?

Ich bin in Jerusalem geboren und aufgewachsen. Da es meinen Eltern aber seinerzeit sehr schwer fiel, Hebräïsch zu lernen, wurde bei uns zu Hause nur das verhaßte Deutsch gesprochen. In diesem Dilemma verbrachte ich meine Kindheit und lebte ich wohl noch bis vor kurzem.

Aber ich muß vorausschicken, daß jenes Flugblatt, das Ihr uns mit seinem Aufruf zu einem Kampfe aller Gläubigen gegen den Unglauben der Ökonomen in die Briefkästen stecktet, mein Leben verändert hat. Mir fiel wie Schuppen von den Augen, daß nicht die Palästinenser, nicht Moslems unsere Feinde sind, sondern schofle Profitgeier, wie sie heute unsern ganzen Planeten für ein günstiges Geschäft halten und die Welt korrumpieren.

Seit dem Tage Eurer Postwurfsendung habe ich nur noch gebetet, daß Du unser Bürgermeister wirst.TOP

Umso fürchterlicher war Deine Absage. Noch fürchterlicher war aber Deine Begründung mit jenem Schiller-Buch, das Du stattdessen herausgeben wolltest. Für einen jungen Mann in meiner Generation, die nicht allzuviel über Schiller gelernt und nichts von ihm gelesen hat, war er bis damals nur die Fanfare jenes fatalen deutschen Idealismus, ohne den es Hitler nie gegeben hätte. Also war Schiller für uns auch schuldig an Auschwitz, wo meine Großeltern und die meisten Verwandten ermordet wurden. Sie alle, empfand ich damals noch, waren von Schiller persönlich und dessen Ideen ermordet worden.

Aber wie konnte eine Mensch wie Du diesen Schiller also dem Neuen Jerusalem eines gläubigen Geistes vorziehen? Was hatte Schiller, was Du bei uns nicht finden zu können befürchtetest?

Diese Frage drohte mich zu verzehren. Sie brannte Tag und Nacht in mir.

Also überwand ich alle meine Vorurteile und versuchte, diesen Schiller zu lesen. Eine Fügung des Himmels ließ mich bei befreundeten Jeckes ein zerfleddertes Exemplar ausgerechnet seiner "Philosophischen Briefe" entdecken.

Lieber Abraham: widerwillig begann ich, das zu lesen, und war sofort verloren. Verloren oder bekehrt oder trunken oder hingerissen oder ausgeliefert oder süchtig. Sowas Schönes war mir in meinem ganzen Leben noch nie begegnet. Aber was, begann ich mich zu fragen, als die ersten Ekstasen und Räusche dieser Lektüre verflogen waren: was denn bitte ist eigentlich das ungewöhnlich Schöne an diesem Text, den ich nur noch lieben konnte?TOP

Denn die faszinierende Vermischung von kühnen Gedanken mit extremer Sinnlichkeit ist es noch nicht allein, was mich da so verzauberte. Auch nicht dieser Höhenflug mit dem unaufhaltsamen Charme eines Zwanzigjährigen. Nein, es war zunächst die absolut neue, absolut unbekannte Einheit einer allermutigsten Philosophie mit unserm esoterischen Eros. Es war die Einkleidung eines himmelstürmenden Geistes in schwules Gewand. Oder die Legitimation einer schwulen Liebe durch denkbar höchste Intelligenz. Das war neu.

Also schlürfte ich es. Ich las es nicht, ich inhalierte, ich soff es. Denn diese Liebesbriefe eines jungen Julius und seines Raphaël sind von unvergleichlich süßer und unwiderstehlich verführerischer Geisteskraft.

Schon zürnte ich Dir nicht mehr. Ich verübelte Deine Absage nicht mehr, sondern begann, ihre Berechtigung zu ahnen: noch nicht zu verstehen, aber schon zu spüren.

Vollends begriffen habe ich sie erst kürzlich, als in unserm Fernsehen aus der Weimarer Fürstengruft jene Schillerfeier übertragen wurde, deren Laudatio Dein liebenswerter Freund Lulu hielt. Erst er hat mir die Augen geöffnet, daß unsere ruinierte Welt allenfalls noch durch Schillers Wissen um eine ideale, die geistige Realität vor ihrem Untergang bewahrt werden kann. Jerusalem wäre für solche Rettung zwar der theoretisch ideale Platz, ist aber heute viel zu kaputt für eine so schwergewichtige Aufgabe. They spoiled it definitely.

Lieber Abraham, Du hattest Recht, Dich in dieser Situation der Welt gegen Jerusalem und für Friedrich Schiller zu entscheiden.TOP

Dir das zu sagen, war der Anlaß dieses Briefes.

Aber weit darüber hinaus habe ich vom schönen Laudator Lulu auch noch erfahren, wie ich mit Auschwitz endlich meinen Frieden machen könnte. Denn er sprach da in Weimar vor all den Raffkes auch davon, daß Schillers leibliche Hülle uns "peinlich abhanden gekommen" sei und sich allen Versuchen entzogen habe, ihr in dieser materiellen Welt einen angemessenen Verbleib zu verschaffen: als habe sie eben gerade das „ums Verrecken“ vermeiden wollen.

Tatsächlich ist wohl gerade dadurch sein rätselvoller Tod nur umso unvergänglicher im Gedächtnis und ein wahrhaft ewiges Thema geblieben, mit dem wir uns noch nach zwei Jahrhunderten so leidenschaftlich auseinandersetzen, daß die Weimarer Schofelinskis neulich das einfach nicht ertragen konnten.

Das war auch für einen orthodoxen Juden wie mich außerordentlich aufschlußreich. Wir pflegen ja, vermutlich seit unserer Babylonischen Gefangenschaft vor immerhin ja mehr als zweieinhalb Jahrtausenden, mit unsern Toten einen Kult, der ehrbar und eindrucksvoll, sogar liebenswert, dennoch ein Irrweg sein mag. Denn er fixiert sich auf ebenjene "leibliche Hülle", die dieser Schiller uns als verzichtbar, als entbehrenswert verstehen lehrt. Mit Hilfe seiner eigenen bizarren Bestattungsodyssee lerne ich einsehen, daß auch jene sechs Millionen ermordete Juden gerade ohne ein solches Grab, wie wir es fordern und pflegen, nur umso ewiger unvergeßlich bleiben.TOP

Vielleicht, beginne ich zu ahnen, war es Hitlers historische Aufgabe, uns Juden mit Gewalt von einem verhängnisvollen Fetisch zu befreien, der im Materiellen der "leiblichen Hülle" verhaftet blieb und uns den Zugang zu überzeitlichen Energien eines Gedenkens im Geiste versperrte.

Vielleicht überschätzen wir sogar das Entsetzliche ihrer millionenfachen Ermordung, weil wir ihre leibliche Hülle zum irreligiösen Maße aller Dinge erklären und uns ihrer geistigen Erlösung verweigern. Schiller, den seine Deutschen ja wohl ebenso heimtückisch ermordet haben wie unsre sechs Millionen Juden und der sich von ihnen ebenso geduldig ermorden ließ wie auch Jesus von seinen jüdischen Landsleuten 1),

dieser Schiller läßt in besagten "Philosophischen Briefen" seinen Julius die bezeichnende Frage stellen:

"Worauf gründen wir das Recht, den Anfang zu bejahen und das Ende zu verneinen?"

Wir gründen es, begreife ich, auf einer möglichen Überschätzung des Körperlichen. Von ihm entbunden zu werden, könnte auch als Befreiung empfunden werden.TOP

Insofern also haben seit Auschwitz die ehrbaren Traditionen jüdischer Friedhofs- oder Gräberkultur zumindest ihr Exklusivrecht, wenn nicht gar ihren Sinn eingebüßt. Gerade ein Volk mit so ausgeprägten religiösen Ambitionen und Sehnsüchten, wie wir es sind, mußte das wahrscheinlich endlich lernen. Auch Treue zu Toten ist was ebenso Geistiges wie der Tod überhaupt und alles sonst in dieser Welt.TOP

"Das Universum", verkündet Julius seinem Geliebten, "ist ein Gedanke Gottes".

Mich hat das also Schiller gelehrt.

Ich verdanke es einem heutigen Julius mit seinem Raphaël: Dir und Deinem schönen Lulu.

Es prägt seither sogar meinen Arbeitsalltag. Ich bin, müßt Ihr wissen, von Beruf Ingenieur und habe also ausschließlich mit Vorgängen zu tun, die wir gern als rein materiell bezeichnen. Bei Schiller und Euch habe ich zu sehen gelernt, daß diese Materie nur deshalb so funktioniert, wie wir sie verwenden oder manipulieren, weil tief in ihrem Inneren Gesetze des Geistes verborgen liegen. Wir stellen ihr geistige Fragen, auf die sie uns geistreiche Antworten gibt. Wäre sie geistlos, gäbe es keine Technik. Technik ist materialisierter Geist, also Geist. Die Technik des Universums, also der Natur ist das nicht minder. Eigentlich gibt es nichts als Geist in dieser Welt, nur und einzig allein den Geist, teils in Körpern, teils ohne. "Wo ich einen Körper entdecke", weiß Julius, "da ahne ich einen Geist".TOP

Ich habe das Gefühl, erst zu leben, seitem auch ich das so sehen kann.

Lieber Abraham, ich bin selig, daß Du nicht in unser versautes Jerusalem gekommen bist, sondern dieser Welt stattdessen zum Heilmittel Schiller verhilfst. Soweit ich das hier kann, will ich dabei nach Kräften assistieren.

Ich tue das bereits, indem ich hier in Jerusalem die deutschen Preziosen aus Schillers liebevoll "Philosophischen Briefen" unter die staunend beglückte Menge streue.TOP

Ich tue es ferner, indem ich zur Zeit gerade ein Kapitel, das mir deutsche Freunde als Raubkopie aus Lebegott Göngs Schiller-Buch überlassen haben, ins Hebräïsche übersetzen lasse, um auch gerade hier in Israel "das Materielle durch Ideen zu beherrschen" und Freiheit in der Bindung aufzuzeigen.

Ich tue all das, ohne dabei zu verkennen, daß Schiller als oberste Tugend oder größte Kraft des Geistes unabdingbar die Liebe empfand, und beende daher auch diesen Brief in aufrichtig liebevoller Dankbarkeit und jüdisch schwuler Brüderlichkeit mit der "Theosophie" seines Julius:

"Ich glaube an die Wirklichkeit einer uneigennützigen Liebe. Ich bin verloren, wenn sie nicht ist; ich gebe die Gottheit auf, die Unsterblichkeit und die Tugend. Ich habe keinen Beweis für diese Hoffnungen mehr übrig, wenn ich aufhöre, an die Liebe zu glauben.“

Also liebe ich auch Dich und Deinen Raphaël 2) und küsse Euch beide, wo immer Ihr es mir gestattet, also gern auch im Geiste:

MenachemTOP

1) Vielleicht ist in diesem Zusammenhang auch jenes Orakel in Goethes spätem Brief vom 9. November 1830 an Freund Zelter endlich zu verstehen, daß eben "Schillern diese echte Christus-Tendenz eingeboren" war: sich demütig und vertrauensvoll ermorden zu lassen.

2) Raphaël ist ja übrigens ein ursprünglich hebräïscher Name und besagt, daß "Gott heilt".

Volltext im Internet überwww.buchhandel.de

Illustration : Schiller Illustration : Schiller

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