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AUTOR VON "HAHNENSCHREIE", "LIEBESBRIEF AN FREMDEN KÖNIG" UND SCHILLER-TRILOGIE ("STERNGUCKER ODER ...")



Aus

STERNGUCKER ODER DAS IDYLL EINES OBDACHLOSEN
Band 2: Doppelsonnen

Werbegruftis mit Göngschlag

Fernsehübertragung aus der Weimarer Fürstengruft

Langsamer Kameraschwenk über den Ältesten Teil des Historischen Friedhofs in Weimar... und Zoom auf die Fürstengruft mit ihrem Eingang in der nördlichen Fassade.

Off-Sprecherin:
In diesem weltberühmten Gebäude, das der Herzogliche Oberbaudirektor Coudray entworfen und 1826 vollendet hat, findet heute in erlesenem Kreise eine feierliche Gedenkveranstaltung der ganz besonderen Art statt.

Kein Geringerer als Dr. Joshua Tanghobányi, einer der wirklich Großen unserer Zeit, hat mit Unterstützung des Öffentlich Rechtlichen Fernsehens und nach langen, zähen Verhandlungen mit der Wüstenrot Stiftung, die in ihrer Eigenschaft als „Deutscher Eigenheimverein e. V.“ auch diese Fürstengruft in ihr Förderprogramm zur Denkmalerhaltung aufgenommen hat, dieses ehrwürdige historische Gebäude für einen Tag angemietet, um hier den heutigen Todestag des früheren deutschen Nationalpoëten Friedrich von Schiller angemessen begehen zu können. Sinnigerweise hat Wüstenrot ja den Sitz seiner Geschäftsleitung just in Schillers heimatlichem Ludwigsburg.

Es war Dr. Tanghobányis Idee, diesem Schiller, dessen Tod und Begräbnis in jüngster Zeit Gegenstand mehrerer Bestseller und so mancher Talk Show im Fernsehen war, an jenem authentischen Platze zu huldigen, wo der Sarg mit den Gebeinen dieses großen Deutschen zu seiner letzten Ruhe gekommen ist.

Schnitt ins Innere der Oberen Grufthalle und nachfolgend auf deren Details.

Hier, in der Oberen Grufthalle, meine Damen und Herren, sehen Sie bereits, wie die heutige Festversammlung auf kreisförmig angeordnetem Gestühl rings um die ovale Bodenöffnung mit ihrem Kontakt zur eigentlichen Gruft und ihren Särgen im Untergeschoß, aber auch rings um ein festlich geschmücktes Lese- oder Rednerpult – ach, und unter dem Sternenhimmel dieses Kuppelgewölbes Platz genommen hat und sich in gesammelter Vorfreude hier auf den heutigen Jubilar konzentriert, den seine engsten Freunde ja sinnig den „Sterngucker“ nannten.TOP

Wohl eben deshalb sehen wir auch jetzt wieder diesen oder jenen prominenten Gast vor Beginn der Veranstaltung schnell noch einmal zu den Sternen der Kugelkalotte emporschauen. Andere wieder mögen die raphaëlitischen Engelköpfe in den sogenannten Pendentifs betrachten, die daran erinnern, daß manche Zeitgenossen diesen Schiller als einen solchen Engel bezeichnet haben.

Wir können auch Ihnen diese Ausschmückung in ihren Einzelteilen zeigen, meine Damen und Herren, weil der Veranstaltungsbeginn sich noch ein wenig zu verzögern scheint. Denn Dr. Tanghobányi, als großzügiger Sponsor der heutigen Trauerfeier und sozusagen Hausherr dieser Fürstengruft für einen Tag, ist noch nicht eingetroffen. Nun, wir alle ahnen, wie überfüllt der Terminkalender eines so glänzenden Globalisten sein muß, und haben gern Verständnis dafür, daß sein Hubschrauber erst in wenigen Minuten hier von sonstwoher einfliegen wird.

Das bietet uns die willkommene Gelegenheit, meine Damen und Herren, Sie mit der Gästeliste eines Joshua Tanghobányi bekanntzumachen. Wir sehen hier die kulturelle crème de la crème nicht nur Thüringens oder Deutschlands, sondern auch Europas, wenn nicht der ganzen Welt. Politiker, Wirtschaftsmagnaten, Generaldirektoren, Fernsehprominenzen und Geldadel, Olympiasieger, Aufsichtsratsvorsitzende und Sportfunktionäre, Filmproduzenten und Zeitungsverleger, eine ganze Phalanx von Medien- und Modestars, die sonst alle selbst mit ihren überfüllten Terminkalendern zu kämpfen haben dürften, finden sich hier plötzlich friedlich zu einem geduldigen Abwarten vereint, das nicht zuletzt ihrer aller Ehrerbietung für eine Kapazität wie diesen Joshua Tanghobányi zum Ausdruck bringt.TOP

Ihm zuliebe werden sie alle wohl auch mühelos verschmerzen, was vielleicht noch gar nicht alle erfahren haben mögen: daß der vorgesehene, der so besonders sorgfältig und einfallsreich ausgespähte Festredner der heutigen Trauerfeier leider kurzfristig abgesagt hat. Es sollte Prof. Dr. Lebegott Göng sein, dessen Buch über Schillers Ermordung derzeit eine ungeahnte Popularität genießt. Von Raubkopien, die es an Stelle einer regulären Vermarktung einzig in Umlauf bringen, ist ja im Augenblick jede einschlägige Szene geradezu überschwemmt.

Kein Wunder also, daß Dr. Tanghobányi in seiner Eigenschaft auch als marktbeherrschender Buchverleger einem solchen Mißstand mit der heutigen Einladung dieses zurückgezogen lebenden Autors entgegenzuwirken trachtete. Leider also entzieht sich nun der medienscheue Eigenbrötler Göng ohne Angabe stichhaltiger Gründe dieser einmaligen Gelegenheit zugunsten seines vielbegehrten Buches über Schillers Ermordung just am heutigen Tage. Fast wäre so die schöne Idee einer werbewirksamen Anmietung dieser Fürstengruft sang- und klanglos verpufft.

Aber in letzter Sekunde ist es Tanghobányis brillantem Team Gott sei Dank noch gelungen, einen medientauglichen Ersatz für den rücksichtslos brüskierenden Bestsellerautor und dessen Starallüren zu gewinnen. Unsere Kamera zeigt diesen Retter jetzt in der ersten Sitzreihe.TOP

Schnitt auf Lulu in schwarzem Anzug, weißer Rüschenbluse, mit männlich geschnittenem Kräuselhaar, pompösem Ohrgehänge aus Mali und perfektem weiblichen make up.

Off-Sprecherin:
Hier sehen wir Göngs eigentlichen Entdecker und Promotor, den Berliner Völkerrechtler Prof. Dr. Louis-Louise M’Baïkaïkel, Vorsitzende jener Jury, die Göng und sein Buch überhaupt erst aufspürte und mit ihrem überraschenden Literaturpreis in die Schlagzeilen brachte.

Fast hätte es auch mit dieser Zweitbesetzung eine Panne gegeben, weil Prof. M’Baïkaïkel hier nicht mit einer Limousine vorfuhr wie all die andern zünftigen Ehrengäste, sondern zwischen all den Grabsteinen und Gebüschen dieses Friedhofes als exotischer Fußgänger mit verdächtiger Aktentasche auftauchte und daher von den zuständigen Sicherheitsbeamten am Betreten der Fürstengruft zunächst behindert wurde.TOP

Nur durch eine Intervention des zufällig hinzutretenden Schweizer Anthropologen Prof. Dr. Blaugold, unsern Zuschauern auch als vormals designierter Oberbürgermeister für Jerusalem bekannt, gelang es schließlich, die Identität dieses afrikanischen Gastes aufzuklären, der ja sonst bisher nur als Fußballfeind aus dem Tschad aufgefallen war. Heute dürfte er - oder sie -wohl die erste schwarzafrikanische Persönlichkeit sein, die hier in der Weimarer Fürstengruft die Festrede für einen deutschen Klassiker hält. Nun, auch das mag eine Form von aktuellem Globalismus sein.TOP

Meine Damen und Herren, da Dr. Tanghobányi noch ein paar Minuten auf sich warten läßt, schlägt mir unsere Regie gerade vor, die Wartezeit mit einer kleinen Stippvisite im Untergeschoß, der eigentlichen Fürstengruft, beim Sarge des heutigen Jubilars zu überbrücken: eine sehr willkommene Idee.

Schnitt ins Untergeschoß der Fürstengruft und auf den Schiller-Sarkophag.

Hier sehen Sie jetzt den Mahagoni-Sarkophag, der über die Jahrhunderte hinweg in stoïscher Ruhe Schillers authentische Gebeine, sein verehrtes Skelett, seine wirklich unsterblichen Überreste aufbewahrt und Millionen von Besuchern aus aller Welt zum Anfassen nah vor Augen geführt hat.

Heute gewinnt dieser Dichtersarg noch einen zusätzlichen Realitätsbezug, weil wir Fernsehleute rings um diese heilige Reliquie der Literatur unser ganz profanes Hauptquartier aufgeschlagen haben, um Ihnen, meine Damen und Herren, Ihre heutige Teilnahme an dieser elitären Veranstaltung überhaupt ermöglichen zu können. Sie sehen jetzt selbst, wie wir uns mit unsern notwendigsten Gerätschaften zwischen den insgesamt 44 Särgen dieser Fürstengruft beëngen und einschränken müssen, um wenigstens ein Minimum unserer technischen Potentiale einbringen zu können.TOP

Es würde im gegebenen Zeitmangel viel zu weit führen, Sie jetzt in die gesamte Fernsehtechnik einzuführen, die für eine solche Aufzeichnung vonnöten ist, aber Sie sehen ja selbst dieses Labyrinth von Kabeln, Stativen, Podesten, Schienen, Scheinwerfern und Zubehör, von Ersatzteilen, Werkzeugkisten, Stromaggreggaten, Transformatoren und was weiß ich. Selbst ich wäre da mit einer präzisen Auflistung überfordert. Aber diese Verschmelzung von, sagen wir, realem Tele- oder Medienalltag und fiktiver Klassikerpoësie hat ja, wenn man so will, auch selbst was Poëtisches, oder? Beachten Sie bitte, wie sogar Goethes und Schillers Särge hier unsern Kollegen von der Technik vorübergehend als geeignete Ablage dienen – ja, und sei es für ihren Proviant, das muß auch sein bei solch einer stundenlangen Aufzeichnung.

Übrigens, die beiden Herren, die Sie da gerade zwischen den beiden Dichtersarkophagen ihren Imbiß einnehmen sehen, sind unser Oberbeleuchter und ein Kamera-Assistent. Eine letzte Stärkung noch schnell, bevor es ernst wird. Ja, und ihre Getränke holen sie sich jetzt von einer improvisierten Bar für das ganze Team: schräg gegenüber auf einer kleinen Kiste, in der sich angeblich Schillers zweiter Leichnam befindet. Denn erstklassige Fernsehprofis nehmen auch an geklonten Leichen keinen Anstoß – solange sie nur prominent sind.TOP

Aber da hören wir Motoren- oder besser: Rotorengeräusch. Das kann nur Dr. Tanghobányis Helicopter sein – ja, richtig: da sehen wir, wie er seine Verspätung hier wettmacht, indem er ganz unbekümmert und praktisch zwischen den ungepflegten, verwitterten alten Grabsteinen landet.

Noch sind die Rotorblätter nicht zur Ruhe gekommen, da setzt bereits in meisterhaft präziser Organisation das Streichorchester ein, das zwischen den Särgen der Herzogsfamilie Platz genommen hat und das musikalische opening dieser Trauerfeier für Friedrich von Schiller durch die ovale Deckenöffnung aus der Gruft in die Oberhalle zu den prominenten Gästen strömen läßt, um dort die angemessene Feierstimmung zu erzeugen.

Aus dem off der populäre und elektronisch ausgesteuerte "Reigen seliger Geister" aus "Orpheus und Eurydíke" von Schillers Lieblingskomponisten Christoph Willibald Ritter von Gluck, während man auf den Monitoren Dr. Tanghobányi seinen Hubschrauber verlassen und dem Portal der Fürstengruft entgegeneilen sieht.

Dahinein ein elektronisches Telefonklingeln mit der Melodie Düliloliu-düdlio: Düliloliu-düdlio ... düliloliu-düdlio ... düliloliu-düdlio ...

Volltext im Internet überwww.buchhandel.de

Illustration : Schiller Illustration : Schiller

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